Die Schmerzen der endenden Art (Auszug)
Wir leben in einer Umbruchzeit. Der wohl wichtigsten der Menschheitsgeschichte. Am Ende der Aufstiegseuphorie. Am Beginn umfassendster Zweifel. Der Umwertung der Werte. Es ist die große Zeit der Erhaltungen gekommen, der vielfältigsten Bewahrungen: der Bewahrung des Friedens, des Lebens, der Welt, der Umwelt, ihrer schon übersehbaren Äußerungen.
Das ist die Zeit der universalen Angst, dass sich die Evolution zu ihrem Ausgangspunkt zurückdrehen könnte, bis zum Urknall. Die des radikalsten Umdenkens also, dass die Philosophen ins Stocken geraten. Ihre bisherigen Überlegungen, wie sich die Menschen auf Erden am besten einrichten könnten, von Platon über Augustin, Campanella, Thomas Morus, Saint Simon, Bakunin bis Marx endeten in der Vorstellung: Omnia sint communia, alles sei gemeinsam.
Die Träume dieser »sozialen Weltverbesserer«, wie sie einst Ernst Bloch nennt, fanden ein zunächst gutes Ende mit dem Aufwachen im Morgengrauen, als am Abend zuvor der Schuss der Aurora auf der Newa gefallen war. Nun aber ist es an der Zeit, dass die Träumereien der Artenbewahrer ernst genommen werden: Omnia, quae sunt, maneant, alles, was ist, bleibe!
Das gemeinsame Alles darf nicht in mangelhafter Obhut der Allgemeinheit langsam, aber sicher zum Wenig reduziert, am Ende zum Nichts degeneriert werden. Dann hätte die Omnia-sint-communia-Gesellschaft gerecht an alle nur noch Nichts zu verteilen. Alsdann ein infernalisches Gelächter aller über alle sozialen Philosophien ausbrechen könnte. Dann hätte wirklich alles nichts bedeutet.
Die Zeit der Bewahrungen ist zugleich die der Gebliebenen, der Kleinen, der auf Restexemplare Reduzierten, der Minoritäten, sozialen, biologischen, ethnischen. Sie, deren exemplarisches Nochvorhandensein sowohl Glück als auch Gefahr anzeigen, besitzen eine besondere Sensibilität für alles, was Störung bedeuten könnte. Sie, wir, die noch Vorhandenen, die weinigen Buntschwänzigen, wissen, fühlen, ahnen die Verarmung, bevor sie eingetreten ist. Wir sind die, die Auskunft geben können über die Beschaffenheit der Angst, die einen befällt, wenn das eigene historische Ende naht. Für uns ist es vorstellbar geworden. Wir wissen, wie es ist, wenn etwas zu Ende geht. Wir sind in der Lage, den Schmerz der endenden Art zu beschreiben. Als Betroffene. Nicht als Beobachter aus der Ferne, für die es eines der vielen Naturspektakel sein könnte, von der die Genesis lebt: Die einen kommen, die anderen gehen, nicht wahr, was soll´s! Nein, in uns ist der Übersinn der Selbsterhaltung, der Verrücktheit der Harzer Tanne, die sich im Todesangsttrieb mit unnatürlich vielen Zapfen behängt.
In uns ist der Widerstand gegen eigene und fremde Gleichgültigkeit. Wir, beseelt von dem bleibenden Wunsch zu bleiben, müssen uns um Dinge kümmern, für die andere keine Zeit opfern: um die Sprache in der Familie, im Dorf und Buch, um das Publikum im Theater, um die Busse, die es aus den Dörfern holen und wieder dorthin bringen. Uns kann es, anders als dem Deutschen Theater, nicht Wurst sein, wieviel Arbeiter und Bauern im Parkett sitzen. Wir spielen fast ausschließlich für sie. Das DT fast ausschließlich für sie nicht.
Für uns ist der seit dreißig Jahren nicht renovierte Bühnensaal der Dorfkneipe ein Teil der tausendjährigen ethnischen Tragödie, weil das Amateurspiel als die nationale Schule nicht mehr stattfinden kann. Ein Laienspektakel am Fuße des Ostroer Burgwalls vermag für einen Abend 5000 Leute herbeizulocken.
Wir haben von der Krankheit der Anonymität gehört, aber wir leiden nicht unter ihr. Das Vergnügen unserer Vergnügungen ist Fremden oft nicht erklärbar.
Die Aufschlüsse der Tagebaue, in deren Gruben unsere Dörfer abfahren, vermögen wir nicht als ökonomischen Erfolg zu begreifen. Wir sehen in ihnen, was sie sind: die einfältigsten der möglichen Einfälle einer technisch hochentwickelten Nation.
Wir besitzen ein drittes Auge. Es ist nur uns gewachsen. Es sieht vieles anders. Es vermag die Welt zu sehen, wie sie nach der uns drohenden endlichen Abfahrt sein wird. Das Auge der anderen Sicht. Das Spuren sichernde Auge. Das auf Täter und Töter aus ist. Das Auge des grenzüberschreitenden Weitblicks, des regionalen Weltbürgers, des Mikrowesens, ohne das das angestrebte Makrogemeinwesen eine lächerliche Utopie bleibt. Wenn der Revierförster seinen Wald zu pflegen vorgibt, dessen Bäume er nacheinander, die seltensten zuerst, absterben lässt.
Ohne uns wird kein Wald, kein Staat zu machen sein. Wir sind zu befragen. Mit uns ist zu überprüfen, was geht, was nicht.
Das will von Schriftstellern geschrieben, von Schauspielern gespielt, von Malern gemalt sein. Das will sein.
Wir sind nicht gefeit vor konservativem Werte-Erhaltungs-Kitsch. Doch es bleibt die große Chance aller talentierten Mandelkrähen.
Jurij Koch in: »Jubel und Schmerz der Mandelkrähe«, Domowina Verlag 1992