zum Lausitz Festival 2021
von Christoph Menke
Wozu ein Lausitz Festival der Kultur? Und wozu ein Festival der Kultur, in dem es nicht nur um die Kunst – um Musik, Theater, Literatur, Installationen, Film – geht, sondern dass auch um Räume des Denkens, der Philosophie?
Man muß die Frage konkret stellen. Das heißt, von dem Ort her, an dem es stattfindet: von der Lausitz her. Dabei bezeichnet die Lausitz im Namen dieses Festivals nicht nur einen bestimmten Ort, sondern einen konkreten Punkt in ihrer Geschichte. Es geht um die Lausitz jetzt. Es geht nicht nur um das Hier, sondern das Heute der Lausitz, und das ist – man muss sagen: schon wieder – durch enorme, tiefgreifende und weitreichende Herausforderungen bestimmt, von denen niemand wissen kann, ob und wie sie bewältigt werden können. Deren nüchternes Stichwort, das für viele wie ein Euphemismus klingen muss, heißt „Strukturwandel“. Dieses Wort definiert die Herausforderungen ökonomisch, technologisch, ökologisch: das Ende des Kohleabbaus. Auch wer aus einem anderen Teil der Republik kommt, versteht, was das bedeutet. Es geht darum, Szenarien zu verhindern, wie sie am Anfang von Chloe Zhaos jüngstem Film Nomadland stehen: Eine Fabrik, im Fall der Lausitz ist es eine ganze Industrie, schließt, und der Ort, an dem sie stand, der in ihr arbeitete und von ihr lebte, entvölkert sich im wörtlichen Sinn. Alle gehen weg, werden Nomaden, der Ort, dessen Filmname „Empire“ wie ein schlechter Witz oder sarkastischer Kommentar anmutet, verschwindet; die Postleitzahl, unter der man Briefe und Pakete an seine Bewohner schicken konnte, wird eingezogen. Man braucht sie nicht mehr: Es ist niemand mehr da. „Strukturwandel“ ist der Name für eine Strategie (die zutiefst mit dem europäischen Modell des Wohlfahrtsstaats verbunden ist), die dieses amerikanische Szenario hier verhindern soll. Es geht um etwas ganz Elementares: dass die Leute weiter in der Lausitz leben können. Aber gerade wenn es um dieses Elementare geht, stellt sich umso dringender die Frage: Wozu, hier und jetzt, ein Festival der Kultur und darin auch noch eine Achse des Denkens?
Das war die Frage, die sich mir gestellt hat, als ich das letzte Jahr von Daniel Kühnel und Lars Dreiucker eingeladen wurde, bei der ersten Auflage des Festivals mitzuwirken. Ich will kurz darstellen, wie sich mir diese Frage, nicht zuletzt durch die Teilnahme im letzten Jahr, beantwortet hat.
Die Antwort ist: Es braucht die Kunst und die Philosophie in der Lage, in der die Lausitz gegenwärtig ist, gerade weil es in ihrem Strukturwandel um etwas so Elementares geht; weil es darum geht, dass man hier leben kann. Denn was das heißt? Es geht zunächst einmal darum, wovon die Lausitz leben wird. Und zwar nicht irgendwie, etwa als Empfänger staatlicher Transferzahlungen, durch Alimentierung. Sondern durch eigene Arbeit; nicht passiv, sondern aktiv. Wie man arbeitet, also zusammenarbeitet, ist aber niemals nur eine ökonomische und technologische Frage (und dabei immer auch, wie wir erst sehr langsam – hoffentlich nicht zu langsam – lernen, eine ökologische Frage). Wie man arbeitet, bestimmt, wie man lebt – wie man handelt, denkt und empfindet, was man wünscht, begehrt und hofft. Es ist eine kulturelle Frage. Es gibt gar keinen Strukturwandel, der bloß ökonomisch und technologisch ist. Er ist immer schon kulturell: nicht weniger als eine Kulturrevolution.
Aber das sagt nicht nur, worum es in der anstehenden Transformation geht. Es sagt auch, wie diese Transformation sich vollziehen muss. Ökonomisch-technologische Veränderungen können administrativ vollzogen werden. Sie sind eine Sache der Verwaltung – guter Verwaltung (die oft unterschätzt, aber unendlich wichtig ist). Kulturelle Transformationen sind dies aber nicht. Kulturen verändern sich zumeist unbemerkt, hinter unserem Rücken, wie von selbst. Aber im Moment des Strukturwandels müssen ihre Veränderungen gemacht werden. Von wem und wie? Die kulturelle Transformation, die der Strukturwandel verlangt, kann nur von unten, im Leben, durch die Leute selbst erfolgen. Und das nicht etwa, wie man häufig sagt und hört, um die Menschen nicht mit Vorgaben zu überfordern. Es ist genau umgekehrt: Es ist die Politik, der Staat, der hoffnungslos damit überfordert wäre, die kulturelle Transformation hervorzubringen, die der Strukturwandel verlangt. Denn das kann die Politik nicht. Die Macht zur kulturellen Transformation ist selbst eine kulturelle Macht: eine Macht von unten, dezentral, in niemandes Besitz – eine Macht, die keiner hat, aber gerade deshalb die Macht von allen und jeder; die wahre, weil wirkliche Demokratie.
Genau hier, in der Bildung einer solchen kulturellen Öffentlichkeit hat das Lausitz-Festival der Künste und des Denkens seinen Ort. Das Festival trägt dazu bei, ein öffentliches, vielstimmiges und daher auch konfliktreiches Gespräch herauszubilden und zu führen, in dem es darum geht herauszufinden und zu bestimmen, wer wir sein und wie wir leben wollen. In diesen Prozessen kultureller Selbstverständigung spielt ein Festival der Künste und Denkens aber zugleich eine besondere Rolle. Worin besteht diese Rolle? Wir sollten sie nicht so verstehen, dass die Künste Antworten geben. Weder die Künste noch gar die Philosophinnen, die Intellektuellen können oder wollen uns sagen, wer wir sind oder gar wie wir leben sollen. Ihr Beitrag liegt nicht vor allem darin, was sie sagen, sondern wie sie etwas sagen. Er liegt darin, was die Künste und das Denken tun, ja, wie sie sind. Denn die Musik, auch die Philosophie sind Praktiken, an denen alle teilnehmen, die einer Musik zuhören, einem Gedanken folgen. Dabei sind sie aber Praktiken ganz besonderer Art. Sie sind Tätigkeiten, die Verbindungen herstellen, Gegensätze erkunden und vertiefen, Verknüpfungen erproben. Sie sind Experimente der Synthesis, von Harmonie und Dissonanz, Übereinstimmung und Widerstreit. Sie sind also formale Übungen, Übungen an der Form (aber die Form, also wie man etwas tut, sagt, denkt, ist das Entscheidende; die Inhalte wechseln, die Formen bleiben).
Das Wichtigste an diesen Experimenten der Formbildung ist nun etwas, das sehr überraschend ist. Das Wichtigste ist, dass die Künste und das Denken ihre Formenbildungen ohne jede Absicherung vornehmen. Sie ist durch nichts vorgegeben und festgelegt. Jedes Mal, wenn eine Musik anhebt, wenn das Denken beginnt, ist alles offen; nichts steht schon fest – alles Mögliche kann passieren. Das ist ein Moment äußerster Gefahr – wenn alles Mögliche passieren kann, kann immer auch alles misslingen und scheitern. Jede Künstlerin weiß das, jeder, der anfängt nachzudenken auch. Aber das Entscheidende an der Tätigkeit der Künste und des Denkens ist, dass wir hier die beglückende, ja, begeisternde Erfahrung machen: dass es – genau deshalb – gelingt. Die unvergleichliche Schönheit, die wir an einem Musikstück erfahren; die überraschende Wahrheit, die jemand ausspricht, der nachgedacht hat: Sie verdanken sich allein dem Mut, sich dieser Gefahr des Scheiterns ausgesetzt zu haben. Daran nehmen wir teil, wenn wir ein Kunstwerk erfahren. Wir nehmen an der Erfahrung teil, wie die Bildung von Einheiten und Formen auf überwältigende Weise gelingt, weil sie auf jede Absicherung – im Gegebenen, in der Geschichte, in der Natur; worin auch immer – verzichtet und neu anfängt. Also weil sie frei ist.
In dieser Freiheit – das ist mein Vorschlag für dieses Festival – besteht der Beitrag der Künste und des Denkens zur kulturellen Demokratie. Diese Freiheit predigen die Künste nicht, das Denken propagiert sie nicht, sondern sie sind sie: sie praktizieren diese Freiheit, und wir mit ihnen, wenn wir sie erfahren. Das ist ihr Beitrag zu der enormen, schier unbewältigbar scheinenden Aufgabe, vor der eine Region wie die Lausitz steht: sich kulturell zu definieren, ja, überhaupt erst zu konstituieren. Denn dies wird nicht so gelingen, dass wir nach einer Identität suchen, die wir irgendwo im Verborgenen schon haben und die wir nur ausgraben müssten, um auf einem festen Grund zu stehen, auf dem wir uns alle versammeln können, der uns trägt und vereint. Einen solchen festen Grund gibt es nicht. Gerade hier nicht; der Name „Lausitz“, so liest man, stammt von dem sorbischen Wort für „sumpfige, feuchte Wiesen“, benennt also alles andere als einen festen, gesicherten Boden. Die Erfahrung der Künste wie des Denkens zeigt uns, dass das kein Mangel ist. Ja, es ist eine unsichere, vielleicht sogar gefährliche Situation. Es verlangt einen offenen, ungesicherten Prozess des Bildens von Einheiten, von Formen. In den Künsten erfahren wir, dass dies glückt und wie es glückt: ohne Absicherung, ohne festen Grund etwas Neues hervorzubringen, das aber gerade deshalb gültig ist; das die Kraft hat, uns mitzureißen und uns zu verändern.
Christoph Menke