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Durch die Oberlausitz - Ein Reisebericht

Yaron David Müller-Zach im Deutsches Damast- und Frottiermuseum
Bevor Regisseur Yaron David Müller-Zach zu den finalen Proben der musiktheatralen Festival-Produktion »Stefan Zweig: ›Die Welt von Gestern‹« ins Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau kommt (spielt am Freitag 01.09. um 19:30 Uhr), besuchte er die Oberlausitz.

Zwischen Zweig und Zittau: Eine Reise in die Oberlausitz. 27.–29. Juli 2023.

Stefan Zweigs Leben war geprägt von Reisen, nicht alle waren freiwillig, manch’ eine war rettende Flucht – neben einer unstillbaren Neugier auf Unbekanntes war auch immer die suchende Sehnsucht nach so etwas wie »Heimat« mit im Gepäck, Ortswechsel wurden nicht selten zu Perspektivwechseln.

Das Ein- und Auspacken des Koffers gilt somit nicht nur den Kleidern – man bricht auf, den Kopf voll mit Vorstellungen, und kommt zurück mit einem Stück erlebter Wirklichkeit. So auch ich …

Viele der Reiseberichte Zweigs sind Europa gewidmet und auch sein autobiographischer Roman »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers«, den wir in Auszügen am 01. September 2023 im Theater Zittau musiktheatral in Szene setzen, kreist um Europa. Bevor nun die szenischen Proben zu diesem Abend beginnen, habe auch ich mich auf eine Reise gemacht. Eine Reise, bei der es nicht darum ging, die wunderschönen Landschaften und beeindruckenden Sehenswürdigkeiten in Instagram-tauglichen Bildern einzufangen, sondern – im Sinne Zweigs – durch diese Orte und die Begegnung mit den Menschen und ihrer Geschichte und Kultur einen Eindruck von eben jener Region »im Herzen Europas« zu bekommen, die das Lausitz Festival im Namen trägt. 

»Ich bestieg wieder den Zug« heißt es oft bei Zweig, so – zumindest einmal – auch wir: Für eine kleine (Zeit-)Reise mit der Zittauer Schmalspurbahn, die uns auf der knapp einstündigen dampfbetrieben Fahrt nach Oybin in jenes Gestern Stefan Zweigs zurückversetzte, in dem der österreichische Kaiser Franz Joseph I. noch das »Markgraf von Ober- und Niederlausitz« im titelüberreichen Namen führte.

»… und es waren nicht die herrlichen Tempel, die verwitterten Paläste, nicht die Landschaften, die mir auf dieser Reise im Sinne der inneren Ausbildung das meiste gaben, sondern die Menschen, die ich kennenlernte …« Und so wie Zweigs Reiseeindrücke wesentlich durch Menschen geprägt waren, hatte ich das Glück, mit Toni Jährig einen gebürtigen Oberlausitzer an meiner Seite zu wissen, der als Netzwerker des Lausitz Festivals mir die Türen zu unerwarteten Einblicken, wie in eine kleine Musikschule in den Mauern der Zittauer Schauburg ebenso geöffnet hat, wie zu grenzenüberschreitenden Ausblicken vom Bismarckturm in Neugersdorf.

Mit großer Offenheit haben mich die Menschen aus der Region in diesen drei Tagen teilhaben lassen an ihrem Leben und meiner Reise dabei ganz persönliche Gesichter und ihrer Lausitz mehrere Stimmen gegeben.

Immer wieder auch in ganz zufälligen Begegnungen, wie beim Besuch in einer kleinen Bäckerei in Zittau, in der ich zu früher Stunde nicht nur freundlich empfangen mein Verlangen nach Milchkaffee und Schokobrötchen stillen, sondern auch ins Gespräch über das Zittauer Theater kommen durfte – was mich als Regisseur natürlich begeistert hat. Wie auch jener Überraschungsmoment, in dem sich der temporeich trommelnde Schlagzeuglehrer als ausgebildeter Bühnenmaler entpuppte, dessen Abschlussarbeiten eindrucksvoll die Räume oben erwähnter Musikschule schmücken.

»Wie lang sind drei Jahre, […], wie reich, wie füllig und wie voll von Überraschungen und Geschenken kann man sie gestalten!« schreibt Stefan Zweig in seinem Roman. Wie kurz hingegen sind da drei Tage bei all dem, was die Lausitz für einen bereithält. Das ein oder andere ein bisschen versteckt – um so schöner, wenn man, wie wir, das Glück hat, nach dem Besuch des Großen Fastentuchs im Kirchgarten mit einer Zittauerin ins Gespräch zu kommen, die uns liebevoll mit Geheim-(deshalb werden sie hier auch nicht verraten)-Tipps für unsere Reise versorgte – die Leidenschaft der Menschen für ihre Lausitz ist ansteckend…

Einer hat mich dabei ganz besonders mitgerissen – jener Kenner der Materie, der uns mit unglaublichem Wissen und leidenschaftlichem Engagement in die mir bis dahin kaum bekannte Geschichte der Webkunst eingeführt hat. Und so eröffnete sich mir in Großschönau eine Welt, die ich beim Lesen unseres von Toni sorgsam erstellten Reiseplans – dort stand für Donnerstagnachmittag »Damast- und Frottiermuseum« – nicht einmal geahnt hatte. Hier hat die Wirklichkeit die Erwartung eines im wahrsten Sinne Besseren belehrt: In unglaublicher künstlerisch-handwerklicher Fertigkeit und motivischer Schönheit erzählen die dort zu sehenden Damast-Stoffe die Geschichte von Menschen, die hinauszogen in die Länder Europas, wie Frankreich oder die Niederlande, um zurückzukehren in ihren Heimatort Großschönau und diesen mit ihrem Wissen und Können zu einem Zentrum der Webkunst machten. In den Anfängen primär für den europäischen Adel hergestellt, sind diese Stoffe ein beeindruckendes aus der Lausitz in die Welt getragenes Kulturgut.

»Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken und Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit, der sichtlich Bindung […] begehrt«. Den enthusiastischen Europäer Zweig stets im Bewusstsein, machten wir uns entsprechend euphorisch auch auf zum Dreiländerpunkt – jener Stelle nahe Zittau, an der die Grenzen Polens, Tschechiens und Deutschlands aufeinandertreffen. Hier ist die Erwartung eines emotional ergreifenden Moments europäischen Bindung zwar nicht an Zollschranken oder Grenzwächtern, wohl aber an den Realitäten zerschellt: Die Länder sind an dieser Stelle durch Wasserläufe getrennt. Während Polen und Tschechien durch eine kleine Holzbrücke über den Ullersbach verbunden sind, liegt zwischen Polen, Tschechien inklusive Europa-Flagge auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite die Neiße – ohne Brücke. Durchs Wasser zu waten haben wir uns dann doch nicht getraut …

Ganz anders später ein Vierbeiner, der in glücklich-befreiender Unkenntnis der Geschichte scheinbar keine kalten Füße bekommen hat, als er an einer der drei Spreequellen unter den starren Augen stahlbehelmter Soldatenköpfe mit durchs Wasser tollte. Steingewordener Ausdruck des Gedenkens erinnert dieser Ort am Kottmar auch an die Gefallenen jenes Krieges, dessen Folgen für Europa auch Zweig immer wieder literarisch (be)greifbar zu machen versucht:

»… Europa wird für Jahrzehnte nicht mehr sein, was es vor dem Ersten Weltkrieg gewesen. Eine gewisse Düsternis hat sich seitdem auf dem einstmals so hellen Horizont Europas nie mehr völlig verflüchtigt […] Wir aber, die wir noch die Welt der individuellen Freiheit gekannt, wir wissen und können es bezeugen, daß Europa sich einstmals sorglos freute seines kaleidoskopischen Farbenspiels.«

Freiheit … individuelle Freiheit … Wir sind gereist in diesen drei Tagen, konnten uns frei bewegen, über Länder- und Landesgrenzen hinweg; Menschen haben uns Türen zu ihrem Leben, zu ihrer Geschichte geöffnet, und auch in Bautzen waren Tore offen – man konnte eintreten in die ehemalige Haftanstalt zu einer 90-minütigen Führung – und das Gehörte hat einen verstummen lassen … und bei allen Versuchen eines Begreifens doch auch im Bewusstsein, dass die eigene Sprachlosigkeit »nur« die eines Außenstehenden ist, der das selbst nie erleben musste.

»Wer an Ideen wahrhaft glaubt, läßt sich durch einzelne Tatsachen nicht beirren, die ihnen zu widersprechen scheinen, denn ein Gedanke, in seiner Notwendigkeit voll erfaßt, ist von unüberwindlicher Stoßkraft…«

Wir gehen bei unserem Zweig-Abend auf die Suche nach Werten, stellen Fragen nach der Lebbarkeit von Idealen; dies in Freiheit einer künstlerischen Auseinandersetzung tun zu dürfen, ist das unschätzbare Privileg, aber auch die Verpflichtung eben dieser, unserer Freiheit.

Ich werde in den nächsten Tagen meinen Koffer auspacken – er ist voll mit wertvollen Einblicken und Erfahrungen aus der und in die Lausitz. Und er wird anders gepackt sein, für die nächste Reise in die Lausitz Ende August.

Yaron David Müller-Zach

Die verwendeten Zitate entstammen Texten Stefan Zweigs.