Sein, Zeit, Sinn und Wirklichkeit: ein ungewöhnliches Treffen
Im Cottbuser Hangar 1 werden die »Quattro pezzi sacri« von Giuseppe Verdi (1813–1901) sowie die »Ekklesiastische Aktion« von Bernd Alois Zimmermann (1918–1970), der biblische Verse aus dem 4. Kapitel Prediger mit Passagen der berühmten Großinquisitor-Legende aus dem Roman »Die Brüder Karamasow« von Fjodor Dostojewski (1821–1881) verkettet hat, musiktheatral präsentiert. Die Aussagen der beiden Komponisten und des Schriftstellers stammen originär aus ihren eigenen Federn und sind in Schriften, Briefen, Memoiren, Interviews, Traktaten und anderen Textformen zu finden; sie wurden hier zur Leseerleichterung lediglich orthografisch angepasst.
AMD
In Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« steht der schöne Satz: »Man muss sich wieder der Unwirklichkeit bemächtigen, die Wirklichkeit hat keinen Sinn mehr!« – Herr Zimmermann, ich möchte nicht den Ursachen Ihres Freitods fünf Tage nach Vollendung des hier gespielten Werkes nachspüren, sondern Sie vielmehr nach dem Sinn der Zeit und dem Sinn der Wirklichkeit befragen.
Bernd Alois Zimmermann
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich an ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde nichts anderes anzeigt, als dass es keine Gegenwart im strengeren Sinne gibt. Die Zeit biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen.
AMD
Also gibt es nicht eine Realität?
Giuseppe Verdi
Tornate all’antico e sarà un progresso.
AMD
Maestro – bitte lassen Sie uns deutsch sprechen. Sie verbinden Zukunftsglaube und Vergangenheitsbewusstsein, indem Sie sagten: »Kehrt zur Vergangenheit zurück, das wird ein Fortschritt sein.«
Giuseppe Verdi (setzt sein Glas teuren Rotweins ab)
Das Wahre zu kopieren, kann eine gute Sache sein, aber das Wahre zu erfinden, ist besser – viel besser! Es scheint ein Widerspruch in diesen drei Worten – das Wahre erfinden – zu sein, aber fragt Papa Shakespeare. Das Wahre nachahmen ist eine gute Sache, aber es ist Fotografie, nicht Malerei.
AMD
Wir befragen im Festival tatsächlich auch dieses Jahr wieder Shakespeare: Nach dem »Caesar« 2022 nun den »Kaufmann von Venedig«. Aber dass auch in Fotografie Kunst möglich ist, werden unsere Ausstellungen zeitgenössischer Kunst erfahrbar machen. Doch will ich nicht das Programm rezitieren, sondern vielmehr dem von Ihnen als »Wahres« genannten Wert nachspüren. Wird es weiterhin als das Wahre Musik geben und …
Bernd Alois Zimmermann (unterbricht)
Selbstverständlich wird es weiter Musik geben, Musik, die wir meinen, auch für die Zukunft meinen, weil man sonst nicht existieren kann: Kunst als Notwehr gegen ein Leben, dass total aus den Fugen zu gehen droht und schon gegangen ist. (Nur haben es die meisten noch nicht bemerkt.)
AMD
In den letzten Jahren hat sich dieses Gefühl verstärkt, dass das Leben total aus den Fugen geraten ist: Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg, Rekordinflation, und Rohstoffkrise – um nur einiges aufzulisten. Doch sehen leider die Wenigsten in Kunst eine Notwehr; dabei heben sich doch Zeiten und Orte, Grenzen und Differenzen in der Musik auf, nicht wahr?
Giuseppe Verdi (mit blitzenden Augen)
Wenn die Künstler einmal dieses Wahre verstehen könnten, dann gebe es keine Zukunfts-Musiker und solche der Vergangenheit mehr; und keine puristischen, realistischen, idealistischen Maler; und keine klassischen und romantischen Dichter, sondern wahre Dichter, wahre Maler, wahre Komponisten.
AMD
Damit wären wir bei einem utopischen Ideal angekommen, denn gerade im Theater ist doch alles falsch und decouvriert genau damit etwas Wahres. Es wird mit Illusionen gespielt, weil sich das Publikum auf eine Konvention einlässt.
Fjodor Dostojewski
Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es enträtseln, und wenn du es ein ganzes Leben lang enträtseln wirst, so sage nicht, du hättest die Zeit verloren. Ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.
AMD
Es wird oft diagnostiziert, dass das Menschsein im 21. Jahrhundert zwar von unendlich viele Kommunikations- und Ausdruckmöglichkeiten geprägt ist, aber tatsächlich eine Vereinsamung hervorbringt. War das im 19. Jahrhundert anders?
Fjodor Dostojewski (krault sich den Bart)
Es ist doch tatsächlich so, dass in unserem Jahrhundert alle in lauter Einzelne zerfallen sind, ein jeder zieht sich in seine Höhle zurück, jeder entfernt sich vom andern, verbirgt sich und verbirgt, was er hat, und es endet damit, dass er sich von den Menschen abstößt und selbst die Menschen von sich zurückstößt.
AMD
Das heißt, man müsste noch weiter zurück vor die Moderne und ins 18. Jahrhundert blicken – vielleicht sogar noch vor die große Revolution. Hat da die musikalische Kunst einen anderen Stellenwert in der Vermittlung des Wahren, des Menschlichen?
Bernd Alois Zimmermann
Wir sind ja (leider!) nicht mehr im Haydn- oder Mozart-Zeitalter. Die konnten wahrlich (und freilich) noch musizieren. Beethoven hat uns (man verzeihe mir die grässliche Paradoxie) das Musizieren verlernt, und er war fürwahr ein guter Lehrmeister. Caramba!
AMD
Musik – ob nun musiktheatral oder instrumental – lässt im aktiv schöpfenden, aktiv ausführenden und aktiv rezipierenden Menschen etwas Göttliches – was immer das sein mag – aufscheinen über alle temporalen und lokalen Grenzen hinweg.
Giuseppe Verdi (emphatisch)
Es gibt keine italienische Musik, auch keine deutsche, und keine türkische – aber es gibt Musik!
Bernd Alois Zimmermann
Ein ernstes Wort: Ist es überhaupt möglich, in dieser gottverdammten Zeit überhaupt noch im absoluten und reinen Sinn zu musizieren, das heißt einen Haydn oder Mozart redivivus in unser Zeitalter zu stellen? Na? – – –
AMD
Von der Reinheit und dem Sinn des Musizierens noch einmal zum Wort: Sie, Herr Dostojewski, fokussieren in Ihrem Roman »Die Brüder Karamasow« Alexej und nennen ihn sogar Ihren Helden.
Fjodor Dostojewski
Für mich ist er ein bemerkenswerter Mensch; aber ich zweifle stark, ob es mir gelingen wird, dies dem Leser zu beweisen. Das liegt daran, dass er zwar handelt, aber eben unsicher, ohne Klarheit. Allerdings wäre es seltsam, in einer Zeit wie unserer von jemandem Klarheit zu fordern. Eines steht aber wohl ziemlich fest: Er ist ein seltsamer Mensch, ja sogar ein Sonderling. Aber Seltsamkeit und Wunderlichkeit schaden eher, als dass sie ein Recht auf Beachtung geben, namentlich da alle bemüht sind, die Einzelerscheinungen zusammenzufassen und wenigstens darin irgendeinen gemeinsamen Sinn in der allgemeinen Sinnlosigkeit zu finden. Ein Sonderling aber ist in der Mehrzahl der Fälle etwas Vereinzeltes, Isoliertes. Ist es nicht so?
AMD
Damit sind wir wieder bei den vereinzelten, isolierten Menschen, die wir durch das diesjährige Festival-Inspirationswort »Hereinforderung« sowohl mit Idealen künstlerisch als darüber zu einem Miteinander in Kontakt bringen wollen. Maestro Verdi – Sie haben sich mehrfach Libretti zu Dramen von Shakespeare und Schiller schreiben lassen, auch Texte von Hugo, Byron, Voltaire, Dumas und anderen haben Sie inspiriert, allerdings kein Werk von Dostojewski. Auch wenn »Die Brüder Karamasow« erst in Ihrem Todesjahr auf Italienisch erschienen, gab es bereits zu Ihren Lebzeiten übersetzte Erzählungen von ihm. In Zimmermanns Komposition verschmelzen im pluralistischen Stil die narrative und die musikalische Ebene und treffen schließlich simultan aufeinander. Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit von Wort und Ton?
Giuseppe Verdi (mit nüchterner Klarheit)
Wenn es die Handlung erfordert, würde ich Rhythmus, Reim, Strophe augenblicklich aufgeben; ich würde ungebundene Verse verfassen, um klar und deutlich alles das zu sagen, was die Handlung verlangt. Leider ist es für das Theater bisweilen notwendig, dass die Dichter und Komponisten das Talent haben, weder Dichtung noch Musik zu schreiben.
AMD
Etwas aufregend Neues erhoffen wir uns von der Zusammenstellung Ihrer »Quattro pezzi« mit Zimmermanns Werk – eine Aktion, die Luk Perceval in Szene setzen und damit die Parameter von menschlicher Freiheit sinnlich hinterfragen wird.
Fjodor Dostojewski
Ich sage dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge, als jemand zu finden, dem er so schnell wie möglich das Geschenk der Freiheit übergeben kann, mit dem er, dieses unglückliche Geschöpf, geboren wird. Aber nur der bekommt die Freiheit der Menschen in seine Gewalt, der ihr Gewissen beruhigt. Das Geheimnis des menschlichen Seins besteht nämlich nicht darin, dass man lediglich lebt, sondern darin, wofür man lebt. Hat der Mensch keine feste Vorstellung von dem Zweck, für den er lebt, so mag er nicht weiterleben und vernichtet sich eher selbst, als dass er auf der Erde bleibt –
AMD (mit Sorge und Vorfreude)
Bleibt uns die Hoffnung, dass wir durch sinnliche Kunsterfahrung eine Vorstellung vom Zweck erkennen oder zumindest erahnen und so der Vernichtung etwas entgegenzusetzen vermögen.