Energie-Pfade oder Der Puls der Lausitz. Die Kolumne
Toni Jährig, Netzwerker beim Lausitz Festival, seit einem Jahr Weißwasseraner, ist drei Tage lang Guide und Gastgeber für die Tänzer:innen und Choreograf:innen Margaux Marielle-Tréhoüart und Joel Suárez Gómez sowie den Komponisten, Musiker und Performer Haggai Cohen-Milo. Die Drei stammen aus Frankreich, Kuba und Israel und leben derzeit in Berlin. Von dort sind sie hergekommen, um ein Projekt in den TELUX- Hallen Weißwasser vorzubereiten.
Ihr Anliegen ist, die Vibes der Lausitz aus dem Lebensgefühl und der Alltagsrealität der Bewohner:innen zu erspüren und in Bewegung und Musik umzusetzen. Dafür tauchen sie in die Landschaft und Geschichte der Region ein und entwickeln mittels Workshops, zu denen alle Neugierigen eingeladen sind, eine Dialogsprache, die auch nonverbal funktioniert – in beide Richtungen. Schließlich wollen sie sich vergegenwärtigen, wo sie hier sind, um vor Ort den Boden zu bereiten für eine Kunst, die sich mit der Realität konfrontiert und in eine fruchtbare Wechselbeziehung tritt.
Heike Merten Hommel, Dramaturgin beim Lausitz Festival, hat sie zwei Tage begleitet.
Teil I
Energie ist alles. Fangen wir damit an.
Schwarze Pumpe
Der Name will nicht zu dem blütenweißen Gelände passen, das hochmodern und beinahe futuristisch im Januarnebel liegt. Nichts erinnert an Pest und Tod, die ursprünglich dem Namen des Weilers und des gleichnamigen Gasthofes zugrunde lagen. Die Bedeutung des Namens hat Margaux schon herausgefunden. Jene Jahre, als das ehemalige VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe seine schwefelhaltigen Kohledämpfe weitläufig über die Region verteilte, sind Geschichte. Das heutige Vorzeige-Energiewerk, wurde erst 1992 errichtet. Nicht ohne Stolz lenkt Frau Schilling, eine Kraftwerkerin, die uns das Areal zeigt, unsere Aufmerksamkeit auf die sich selbstreinigende Fassadenverkleidung, die ganze 450.000 Quadratmeter das Kraftwerk umhüllt. Ab 1992 wurden die veralteten Anlagen schrittweise stillgelegt und das Gelände in den Industriepark Schwarze Pumpe umgewandelt. Haggai, der beim Lausitz Festival 2022 bereits als Bassist in der Brikettfabrik Luise in Domsdorf mit dem Omer Klein Trio ein Jazz Konzert gegeben hat, fällt die Leere der Betriebsanlagen auf. Heute sind es nur noch 250 Beschäftigte anstelle der damals 20.000. Ein Werbefilm feiert die »Kathedrale des Stroms«, die »höher ist als der Kölner Dom«.
Immer noch regieren die Superlative, denke ich. Mit grünen Helmen bestückt erkunden wir das Areal.
Dreizehn längliche Container bilden die Big Battery. Margaux hält inne, lauscht. Das Knistern der Turbinen verrät die Hochspannung in den Leitungen. So also hört sich Strom an. Gewaltig.
Von elementarer Kraft zeugt auch die Schallschutzwand um den Kühlturm – das Donnern des herunterstürzenden Wassers verursacht Geräusche von 100 Dezibel. Aber nur 40 Dezibel dürfen außerhalb der Grundstücksgrenze abgegeben werden. Die Generatoren sind riesig. Alles ist riesig. Und fast menschenleer. Der Kontrollraum erinnert an das Cockpit eines Raumschiffs, fünf Augenpaare sind auf zahllose Kontrollmonitore gerichtet, in jeder Schicht fünf Leute, Elektriker, Kraftwerker. »Dreiundzwanzig Mitarbeiter haben hier alles unter Kontrolle, alle acht Stunden ist Wechsel.«
Der Energiepark ist clean wie ein Reinraum. Gespenstisch. Durch Luken beobachten wir den glühenden Tanz der unzähligen brennenden Aschefunken im Nachbrennrost; diesen Reinigungsvorgang braucht es, um jeden Kohlenstoff herauszufiltern und schließlich den reinen Dampf zu erzeugen.
Draußen, in der Kesselgasse wandern unsere Blicke das Gebäude entlang himmelwärts bis nach oben. Es sind 161 Meter. Die Spitze steckt im Nebel fest.
Draußen erörtern wir das Erlebte im Gespräch. »Jedem Bergarbeiter ist klar, dass die Ressource endlich ist. Aber noch immer deckt das Land seinen Strombedarf zu 43% aus Kohle. Gerade in der Dunkelflaute, kein Wind, keine Sonne, ist Kohle unverzichtbar.« »An der Energiefrage sind die Probleme der Gegenwart und Zukunft festzumachen.« »Ja, aber das gilt weltweit. Es betrifft auch den Nachbarn in Polen.« »Oder die Länder Afrikas.« »Die Politik schürt Ängste.« »Die Abhängigkeit von Energieressourcen schürt Ängste.« »Aber nicht erst seit Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine, der das Dilemma der Abhängigkeit von Rohstoffen so krass vor Augen führt.« »In den 1960ern musste die kleine DDR, in Ermangelung von Steinkohle, die Energieversorgung der Bevölkerung sichern.« »Braunkohle wurde abgebaut und zu 90% verstromt. Der Rest wurde zu Brennstoff verarbeitet für die Haushalte.« »Aber um welchen Preis?« Jahr für Jahr fraßen sich die Schaufelbagger durch die Landschaften der Lausitz, veränderten die Topografie ganzer Landstriche.« »Die schönsten Seen sind entstanden. Neunzehn Quadratkilometer Wasserfläche hat die Cottbuser Ostsee.« »Aber was nützen die Seen, wenn hier keiner mehr wohnt?« »Das Fraunhofer Institut entwickelt Häuser mit eigenen Energiekreisläufen…« Frau Rapp, Verantwortliche für die Standortkommunikation des Tagebaues Welzow-Süd meinte, das Jahr 2038 stehe für eine neue Zeitenwende. »Dem einen ist sie Zukunftsvision und Meilenstein für erneuerbare Energien, dem anderen ein ungewisser Pfad dessen Ziel in weiter Ferne noch nicht erkennbar ist.«
Oder ein Damoklesschwert, das seine Existenz gefährdet, denke ich. Wie viele Wenden verkraftet der Einzelne?
»Und was bedeutet das für die hier Lebenden?« fragen Margaux, Haggai und Joel.
Teil II
Der Workshop. Energieumwandlung der anderen Art.
Abends geben Joel, Margaux und Haggai ihren ersten Workshop. Vor dem Soziokulturellen Zentrum TELUX stehend erwarten wir die Workshopteilnehmer:innen. Toni wirkt, wie immer, tiefenentspannt. Aber das täuscht. »Der Start eines solchen Projektes fängt immer im Kleinen an, und natürlich ist man vorher nervös, ob und wie es angenommen wird und wer kommt.« Gerade in einer Region die eher für ihre Industriekultur als für Kunst bekannt ist.
Aber schließlich sind es fünfzehn Menschen, die sich im ersten Stock der TELUX, über der Hafenstube einfinden. Die Älteste ist sechzig, die Jüngsten sind achtzehn Jahre alt.
Die wenigsten kennen einander. Haggai positioniert seinen Kontrabass. Margauxs lange Beine durchmessen den großen Raum. Andere schließen sich an. Bewegung im Raum, Tempowechsel, Perspektivenwechsel, sich im Raum fühlen. Ein Ball kommt ins Spiel. Zunehmend wird die schützende Distanz aufgegeben, der Raum enger gezogen. Jeder arbeitet sich durch zwei Menschen hindurch, als seien sie Türflügel. Einer ist des Anderen Material zur Gestaltung. Es wird warm, innen und außen. Hatte vorher jemand Angst, seine Mitwirkung könne an Sprachbarrieren scheitern, sieht er sich erleichtert: Englisch, Deutsch, Dialekt– man wirft sich die Bälle zu, hilft einander zu verstehen. Jeder kommt mit, ganz organisch. Jeder ist ein Einling, und zugleich sind wir Menge. Anonymität tut gut. Who is Who spielt keine Rolle, auch nicht, was jeder so treibt. Irgendwann werden, im Kreis stehend, auf Anweisung von Haggai spielerisch Mutmaßungen angestellt, Zuschreibungen getätigt. Der Ball geht Hopp – an die Eishockey- Dancing Queen – Hopp an die Frau, die Kinder hat– Hopp den Outdoormann oder Hopp – den Schmuckliebhaber. Wortschöpfungen perlen in den Raum. Heiterkeit, wenn sich jemand erkannt glaubt. Wahrheit oder Fake? Hat keine Bedeutung. Alles ist Stoff zum Spielen. Schließlich kommt die Sache mit dem Faden. Ein zwei Meter langer Wollfaden verbindet jeweils zwei Menschen, die sich nur über diese Verbindung abwechselnd mit geschlossenen Augen im Raum bewegen. Und irgendwann gibt es keine Führung, es existiert nur mehr die stumme Absprache zweier Blinder. Die letzte Konsequenz dieser Methode zeigen Joel und Margaux: Sie navigieren zu zweit im Raum, ohne Faden, nur über Energie-Wahrnehmung.
Als zum Abschluss die Workshopteilnehmer in einem fingierten Zuschauergespräch durch Fragen Bezug auf eine fiktive Theatervorführung nehmen, greifen die drei Künstler die Essenz aus den Fragen auf und improvisieren daraus eine Szene. Spätestens hier dämmert mir, wohin die Reise gehen kann: Aus den Fragen und Energien der Mitwirkenden entwickelt sich ein Stoff.
Erst am Ende des ersten Treffens gibt es eine Runde, in der jeder seinen Namen nennt. Mein Partner am Faden stellt sich vor: »Marlon.« Wahrheit oder Lüge? Egal.
Cool war es mit Dir, Marlon. Es hat Spaß gemacht.
Doch ich will nicht alles verraten.
Jederzeit ist jeder Neuankömmling zu den Folgeworkshops willkommen.
»Man geht anders raus als rein, oder?« gesteht mir beim Abschied eine begeisterte Mitwirkende. »Definitiv!« bestätige ich.
Abends machen Toni und seine Frau in ihrer Wohnung in Weißwasser Deichelmauke, traditionell. Ein Apernmaukedeich, darin ein Krautkrater, schwimmend in einem See aus Rinderbrühe.
Voilà! Das Löffelballett während des genüsslichen Schlürfens und die zufriedenen Seufzer der Gäste sind schon beinahe eine Komposition.
Teil III
Gott auf dem Schaufelbagger – Gundermanns Revier
Haggai nimmt mir das Wort aus dem Mund – »It’s like the Brooklyn-Bridge!«
In der Tat erinnert die metallene Konstruktion der 502 Meter langen Förderbrücke, 74 Meter über dem Bergheider See, aus dieser Perspektive an die symbolträchtige Brücke über den East River.
Tatsächlich sind wir in Gundermanns Revier. Das ist, strenggenommen, auch nur die halbe Wahrheit, denn der Bagger fahrende Sänger arbeitete in Welzow-Süd, hinter Großräschen, und wir stehen in Freiwalde im E60 auf dem Gelände des Schaubergwerks. Aber das Gefühl, Herr der Welt zu sein, kann einen schon beschleichen. »Ich bin Bergmann, wer ist mehr?« – warf sich zu DDR-Zeiten der Bergarbeiter in die Brust. Hier in Freiwalde lief der Riesen-Bagger keine zwei Jahre. Für vierzig Jahre war er geplant. Dann kam auch hier das Kohle-Aus.
Auf einen der fünf weltgrößten Schaufelradbagger geklettert zu sein und aus achtzig Metern Höhe über das winterliche Seenland zu schauen, ist ein einmaliges Erlebnis. Aber eines, das einen nachdenklich stimmt, im Hinblick darauf, was Zeitläufte und Epochenwechsel bewirken. Im Hinblick auf Landschaft und menschliche Psyche. Was der Kopf versteht, kommt noch lange nicht im Körper an, oder in dem, was man die Seele nennt. Joel und Haggai, Toni und ich sind still, laufen die 444 Meter Schräge über Metalltreppen- und Roste bis zum höchsten Punkt. Margaux entschließt sich zum vorzeitigen Abstieg. Die luftigen Höhen schlagen der Choreografin auf den Magen. Toni läuft vor mir, sein langer blonder Zopf weht im Wind. Mitunter übersetzen wir, was uns Frau Donath, die Führerin, vermittelt, ins Englische. Ansonsten sind alle still, gefangen, jeder für sich damit beschäftigt, die Bergbau-Seenlandschaft und ihre Geheimnisse zu lesen. Der Bagger war nur fünfzehn Monate lang ein Arbeitsplatz für 220 Menschen, 70 je Schicht, Männer und Frauen. Jedes Detail ist spannend, das Werkstattgehäuse, der Fahrstand, die kolossalen in vielfachen Schichten aus Stahl, Dederon und Gewebe verstärkten Laufbänder für Kohle und Erdreich, der Löschtank, um die durch Rotationshitze der Rollen erzeugten Brände zu löschen. Je ein Damen- und Herrenklo, dessen Inhalt im freien Fall ‘zig Meter abwärts in die Grube schoss.
Wie werden die Drei ihre Erlebnisse verarbeiten? Auf der Agenda bei diesem Besuch stehen noch ein Besuch bei den Cheerleadern in der Eisarena Weißwasser und ein Besuch in Mühlrose (Miłoraz), einem Ort, der dem Tagebau Nochten weichen wird.
Bevor der zweite Workshop losgeht, stärken sich die Gäste in Werners Landgasthaus mit Schnitzel. Wir reden über Ost und West, gestern, heute und morgen, über die hungrige Lausitz und die satten Metropolen.
Beim Kaffee gehen Haggai, Margaux und Joel zur Vorbereitung des zweiten Workshoptages über. Sie planen, am Abend schon mal die Halle auszuprobieren, den späteren Spielort, wenn im August das Projekt steht.
Ich muss zurück nach Zittau, und bedauere, nicht weiter dabei sein zu können.
Aber wir bleiben in Verbindung. Eh klar.
Zwei Tage später wird mir Toni erzählen, dass zum zweiten Workshop etliche Teilnehmer:innen wiedergekommen sind. Andere stießen neu dazu.
Vorläufiger Epilog
Herbei, kommt herbei! – möchte man sagen. Nehmt Fühlung auf!
Langsam wächst meine Hoffnung, dass es gelingen möge, die Energie, die ich bei den Dreien spüre, umzusetzen, zu übertragen. Ihre wachen Blicke drücken Verständnis aus, richten sich nicht aus dem Olymp der Kunst auf eine fremde Spezies. Interesse und Neugier sind ihr Reisegepäck.
Wie werden sie den Puls der Lausitz in Bewegung und Musik umsetzen? Es geht auch hier, wie im Kraftwerk, um Energie. Wird sich die gespeicherte Energie von Jahrmillionen alter Bäume und Pflanzen, in die Erde gepresst als Kohle, und die Energie der Generationen von Menschen im Kampf um die Ressource in Kunst transformieren? Kann sich der begonnene Dialog während der Workshops verzweigen, fortspinnen? Und welche Gestalt wird das Tanzprojekt in Weißwasser schlussendlich annehmen beim Lausitz Festival 2023, im August, in TELUX?